Melinda Nadj Abonji *1968

Als der Verlag Nagel & Kimche aus Anlass des Schweizer Schwerpunkts der Frankfurter Buchmesse 1998 unter dem Titel «Sprung auf die Plattform» einen Band mit junger Schweizer Literatur präsentierte, war auch die am 22. Juni 1968 im serbischen Becej geborene Melinda Nadj Abonji mit zwei Texten vertreten. Zu ihrer Person aber stand zu lesen: «Aufgewachsen in Küsnacht ZH, studierte von 1988 bis 1997 Germanistik und Geschichte in Zürich. Seit 1991 ist sie Kellnerin, Lehrerin, freie Journalistin und Musikerin.» Zwölf weitere Jahre sollten vergehen, bis der Geigerin, Performerin und Texterin von all den 1998 präsentierten Neulingen der spektakulärste Sprung auf die Plattform gelang. Jahre, die auch schon mal einen Operntext («Sancta Susanna», 2002) und 2004 den von den Medien eher zwiespältig aufgenommenen Erstling «Im Schaufenster im Frühling» hervorbrachten – ein Buch, das immerhin das besondere Talent der Autorin im Umgang mit chronologisch heterogenen Erinnerungsflashs bewies. Dann aber, 2010, legte die 42-Jährige nach sechs Jahren intensiver Arbeit den Roman «Tauben fliegen auf» vor und gewann damit sowohl den deutschen als auch den Schweizer Buchpreis. Völlig zu Recht, wie auch nach dem Abflauen des durch die Prämierungen ausgelösten Rummels noch immer ohne Wenn und Aber festzuhalten bleibt. Der Roman spiegelt persönliche Erlebnisse der Autorin und geht vom Gegensatz zwischen der frühen Kindheit in einer ungarisch sprechenden Familie der Vojvodina und den Erfahrungen als junge Frau in der Schweiz aus. Ildiko, die Ich-Erzählerin, arbeitet wie ihre Schwester Nomi schon als junges Mädchen im Café der Eltern mit, teilt aber deren Anpassungsstrategie je länger je weniger und sucht am Ende fern von ihrer Familie einen eigenen Weg. Den Szenen im Café Mondial und während des abendlichen Ausgangs der Schwestern im besetzten Zürcher Wohlgroth-Areal stehen die alljährlichen Besuche bei den Verwandten und bei Mamika, der Grossmutter, gegenüber. Diese Frau, die zwei Diktaturen überlebt hat, bleibt auch dann noch zentral für die beiden Mädchen, als sie vordergründig längst zu Schweizerinnen geworden sind. Der Roman schenkt aber auch einer Reihe weiterer Figuren ein vitales, beseeltes Leben. So dem jungen Dalibor, mit dem Ildiko eine Art Romeo-und-Julia-Geschichte verbindet, ist er doch Serbe, während sie der lange unterdrückten ungarischen Minderheit angehört. Berührend auch das Schicksal der in der Vojvodina zurückgebliebenen Janka, die sich als Ildikos Stiefschwester entpuppt und neidvoll auf deren Leben im Wohlstandsland Schweiz blickt. Am Ende aber ist Ildiko beidem entfremdet: dem Leben auf dem Balkan, wo sie keine Zukunft hätte, und jenem in der Schweiz, von dem sie sich nicht vereinnahmen lassen will. Zu etwas Neuem aufbrechen aber will sie allemal, auch wenn sie sich vorkommt «wie eine aufgeregt flatternde Taube, von menschlichen Schritten aufgescheucht». Der Roman erzählt nicht nur auf wunderbare, bewegende Weise die Geschichte einer Jugend zwischen zwei Welten, er ist auch formal und von der Komposition her geglückt wie seit Jahrzehnten kein Schweizer Erstling mehr. Und der spektakuläre Start steht, anders als bei vielen hochgepriesenen Erstlingen der letzten Jahre, einem weiteren Erfolg nicht im Weg. Am nächsten Roman arbeitet sie zielstrebig, und am 16. Mai 2014 kommt am Theater Basel, wo sie zur Zeit Hausautorin ist, Melinda Nadj Abonjis erstes Theaterstück «Schildkrötensoldat» zur Premiere.